Intuition und Gewissheit in der kreativen Arbeit

Intuition und Gewissheit in der kreativen Arbeit

 

Ich bin das Brot des Lebens; wer mich kennt, der wird nie mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird nie mehr dürsten“


(Johannes 6,35)


Wir alle kennen diese oder eine nah verwandte Empfindung: Wir beginnen eine sorgfältig vorbereitete Arbeit. Vielleicht sitzen wir vor einem leeren Blatt Papier oder wir stehen vor einer Staffelei. Wir haben die „Intuition“ dessen, was werden soll. Wir spüren das „Zukünftige“ bereits in unseren Muskeln. Wir setzen den Pinsel an und in diesem Augenblick wissen wir, dass der nächste Arbeitschritt „gelingen“ wird. Wir fühlen uns während der Arbeit vollkommen sicher und von absoluter Gewissheit getragen.

Wir bringen etwas hervor, und vergleichen es laufend mit dem „inhaltslosen Evidenzerlebnis“, welches unserer Arbeit zu Grunde liegt. Wir wissen, wann wir „locker lassen“ und wann wir „Gas geben“ müssen. Und dann – plötzlich und ohne Vorwarnung – sagt die Arbeit von sich aus: „Ich bin fertig“ . Wir lassen los, das Werk ist vollendet.

Denken wir an einen im Tribal lebenden Jäger, der sich noch in einen magischen Bewusstseinszustand befindet. Morgens zeichnet der Jäger einen Kreis in den Sand und markiert darin einen symbolischen Vogel. Der Jäger nimmt auf diese Weise eine „magische Verbindung“ mit dem Geist des Vogels auf, den er heute jagen wird. Er nimmt sein Blasrohr zur Hand, zielt und trifft seine symbolische Beute – oder auch nicht. Wenn er den Vogel trifft, geht er jagen. Er hat den Vogel schon „gejagt“, bevor er aufbricht. Wenn er den Vogel verfehlt, bleibt er Zuhause.

Genau wie der steinzeitliche Jäger können auch wir winzige „Probehandlungen“ ausführen. Statt uns den Kopf zu zerbrechen, machen wir einen ersten Schritt und achten auf den „Ton“, auf den „Zusammenklang“ unseres Handelns mit dem Ganzen. Wenn der Tonus stimmt, wenn wir fühlen, dass wir im Einklang sind, machen wir weiter.

Wenn wir auf diese Weise arbeiten, ist es wichtig, zu wissen, wann „genug“ ist. In der bildenden Kunst ist das besonders gut erlebbar: Es kann sein, dass wir ein Bild „vermalen“. Dann haben wir den Zeitpunkt verpasst, in dem es „gerade gut“ war. „Gerade gut“ oder auch „gerade (noch) gut“ – auch als die japanische Kunst des „Hara hachi buh“ bekannt: „Iss nur so viel, dass du noch ein bisschen Hunger übrig hast“ – kann uns zur Richtschnur unseres Handelns werden.

Statt uns in als Perfektionismus getarnter Angst zu verlieren und „nie fertig“ zu werden, weil wir „noch nicht so weit sind“ oder „die Welt noch nicht bereit dafür ist“ sagen wir uns beherzt: „90 Prozent ist auch gut und lassen los. Statt uns selbst und unsere Vorstellung zu wichtig zu nehmen, bleiben wir im Fluss des Schaffens – „finished beats perfect“.

Das gilt auch für unser soziales Leben: Wann ist es im Gespräch mit einem anderen Menschen, beim Besuch einer Veranstaltung oder während einer intimen Begegnung „gerade (noch) gut“? Können wir unseren Lebenssinn an dieser Stelle ernst nehmen und uns von ihm leiten lassen statt ihn – wie es leider meistens geschieht – vertäuben zu lassen?

Menschen, die noch im Zusammenhang eines Tribal leben sind mit ihrer Umgebung auf magische Weise eins. Der Urwald-Indianer spürt die Anwesenheit des Jaguars bereits lange, bevor dieser sich in seinem Sichtfeld zeigt, was bereits zu spät wäre. Auch als Kinder leben wir noch weitestgehend in Verbundenheit mit dieser Schicht unseres Bewusstseins, die allem künstlerischen Schaffen, jeder Poesie und letztlich auch jeder zeitgemäßen Form der Meditation zu Grunde liegt. 

Mit der Ausbildung des Intellekts verlieren wir den unmittelbaren Zugang zu unseren Empfindungen. Unsere Möglichkeit heute besteht darin, im Alltag die Verstandesmenschen zu bleiben, die wir sein müssen um gesellschaftlich zu funktionieren. Gleichzeitig können wir trainieren – zunächst vorübergehend und bewusst gesetzt – wieder einzutauchen in die „magische Welt“ des Kindes oder auch des im Tribal lebenden Menschen.

Rudolf Steiner nennt diesen Vorgang die Ausbildung der Bewusstseinsseele“. Wir können heute wach erforschen, was Menschen früherer Zeitalter nur unfrei träumend erlebten. Dadurch heben wir unsere unmittelbare „Empfindungsseele“ auf eine neue Stufe, ohne das durch die „Verstandes- und Gemütsseele“ inzwischen Erworbene – unser „Ich-Bewusstsein“ – dadurch wieder zu verlieren.

Wenn wir bis hier hin geübt haben, dann werden wir mit Sicherheit auf „innere Widerstände“ gestoßen sein. Diese Widerstände können vielfältigste Formen annehmen. Es kann sein, dass wir uns „zufällig“ verletzen, dass wir auf ein mal „keinen Zugang mehr finden zu den kurz zuvor noch als so wohltuend empfundenen Übungen. 

Es könnte sein, dass wir eine Nacht schlecht schlafen, dass sich Alpträume, Schmerzen oder sonstige Zustände einstellen oder aber, dass unser Verstand allerlei Argumente findet, warum die Übung „doof“ ist und nicht funktionieren kann oder, dass wir heute leider nicht üben können aber dafür umso mehr „demnächst“ üben werden

Wenn wir auf solche Widerstände stoßen können wir uns an das Bild mit der „Fliegenklatsche“ erinnern: Da ist ein weiter See mit der Temperatur einer Badewanne. In dieser Badewanne schwimmen viele Menschen, stets mit den Köpfen unter Wasser. Alle paar Kilometer ragt ein Stein aus dem Wasser, auf dem ein großes „Widersacherwesen“ mit einer gigantischen Fliegenklatsche sitzt. Sobald einer der Menschen sich aufrichtet und – frische Luft der Freiheit atmend – seinen Kopf aus dem Wasser erhebt, macht es „Batsch, Batsch, Batsch, Batsch!“.

Nun ist es allein unsere Entscheidung: Entweder wir kehren wieder zurück in die vertraute, „schön lauwarme Badewanne“ unserer Komfortzone oder wir sagen uns: „Aha! – Richtige Richtung!“. Die „Arndt-Schulze-Regel der biologischen Medizin“, auch bekannt als das „Prinzip Hormesis“, lautet: Starke Reize schwächen, schwache Reize stärken“. 

Bewerfen wir einen Menschen mit zehntausend einzelnen Kieselsteinen, so wird er das überleben. Bewerfen wir den Menschen dagegen mit einem einzigen großen Felsbrocken wird dieser Mensch sterben. Zehn mal mit 10 km/h gegen eine Wand zu fahren wird weniger schlimm sein als ein mal mit 100 km/h gegen eine Wand zu fahren. – Was können wir daraus lernen? 

Das zentrale Thema des Unterbauchkraftfeldes lautet: „Ich habe das Recht, zu lernen, zu heilen und zu wachsen“. Wenn in der meditativen Arbeit ein kleiner Widerstand auftaucht, können wir ihn durch liebevolle Zuwendung oft schnell überwinden und daran wachsen. Darauf basiert das Prinziep Hormesis. Eine kleine Schwächung ruft nach ausreichender Regeneration eine Stärkung hervor. Fahren wir dagegen mit Volldampf gegen die Wand, hat sich das Thema – zumindest für diese Inkarnation – erledigt. 

Wir achten also darauf, zunächst lieber etwas weniger zu üben, als wir uns zutrauen aber dafür regelmäßig und mit dem „heiligen Ernst des Spiels“. So bauen wir langsam aber sicher „Momentum“ auf. Erinnern wir uns an den Tomaten-Gärtner, der aus seinem „Dornröschenschlaf“ erwacht. Nach einhundert Jahren Schlaf erwacht der Gärtner und stellt fest, dass alle seine Tomaten „vergeizt“ sind. Was soll er jetzt tun? 

Der Gärtner könnte eine Schere zur Hand nehmen und sich voller Hingabe an die Pflege einer einzigen Tomatenpflanze machen. Wenn er mit der ersten Pflanze fertig ist, kommt die nächste Pflanze an die Reihe. Was kümmert es den Gärtner, dass da noch fünf Gewächshäuser auf ihn warten? Sobald wir mit dem wirklichen, also regelmäßigen und konzentrierten Üben anfangen, geschieht häufig etwas Bemerkenswertes. Es scheint so, als gäbe es da ein „unsichtbares Feld“ mit welchem wir nun verbunden sind – unser, von Außen betrachtet – vielleicht vollkommen „irrsinniges“ erscheinendes Handeln wird nicht ohne Folgen bleiben. 

Wie wir sehen, baut das als „Orange-Rot“ empfindbare „Unterbauchkraftfeld“ auf dem als „Schwarz-Rot“ empfindbaren „Wurzelkraftfeld“ auf. Als Stehlinge haben wir gelernt, uns aufzurichten und unseren Willen ergriffen. Jetzt wenden wir diese Willenskraft auf die Dinge an, die wir lernen wollen. Im reifen Kindesalter – also zwischen Zahnwechsel und Pubertät – lernen wir mit atemberaubender Geschwindigkeit. 

Für viele Menschen ist diese Zeit des „seligen Kindseins“ ihr Leben lang ein „innerer Hort“ der Kraft und Gesundheit, unabhängig davon, wie leicht oder schwierig die konkreten Lebensumstände damals waren. Wir denken an das Christus-Wort: „Ich bin das Brot des Lebens“. Die Welt ist uns wohlgesonnen und im tiefsten Grunde schön, wahr und gut“, unsere Eltern erscheinen uns als makellose, „unhinterfragbare Götter“ – was sich sehr bald ändern wird. 

Wenn diese Zeit gut verlaufen ist, dann tragen wir unser Leben lang einen Quell des Gesundens und der Regeneration in uns. Im besten Fall sind wir dann nicht nur „resilient“ gegenüber schwierigen Erfahrungen – ein Begriff, der ursprünglich aus der Zahnmedizin stammt und meint, dass ein Material nach Belastung wieder die seine ursprüngliche Form annimmt – sondern, wie es Nassim Taleb nennt, antifragil“. – „Antifragil“ bedeutet, dass wir nach der Erholung von einer Belastung mehr haben oder mehr können als vorher, ein Prinziep also, auf dem jedes Training beruht. Wir sind dann nicht mehr „Phönix aus der Asche“ (resilient) wir werden zur Hydra: „Schlag mich, ich wachse“.

Wir erinnern uns an das Atemzentrum in unserem verlängerten Rückenmark, welches den Kohlendioxidgehalt in unserem Blut misst. Werden wir seelisch überwältigt und atmen in der Folge forciert ein, wird der an das Atemzentrum angrenzende, dorsale Vaguskern aktiv. Unsere Nebenniere schüttet nun die Stresshormone Adrenalin und Cortisol aus. Viele Menschen leiden daran, dass dieses System chronisch überlastet ist und fühlen sich demzufolge energetisch ausgebrannt. Die Stresshormone, die von der Nebenniere ausgeschüttet werden deaktivieren die Thymusdrüse, welche unter Anderem für das gesunde Funktionieren unseres Immunsystems zuständig ist. 

Dauerhafter Stress, das Überschreiten der Verletzungsschwelle also, kann uns also nicht nur in den chronischen Burnout sondern darüber hinaus auch in sehr schwere Krankeitssituationen hinein manövrieren, die mit einem defekten oder autoaggressiven Immunsystem zusammenhängen. Umgekehrt können wir, wenn wir lernen unser „Nierenfeuer“ zu hegen und zu pflegen, an die sorgenfreie Zeit und die redundante Lebensenergie unserer Kindheit wieder anknüpfen. Dabei lernen wir, was „Penetrationskraft“ bedeutet. 

So wie wir im Schnitt 1180 Versuche gebraucht haben, um endlich Gehen zu lernen, so werden wir wahrscheinlich auch sehr viele erfolglose Versuche brauchen, bis wir die „innere Sicherheit und vollkommene Seelenruhe“ erlernt haben, die mit einem tief „Orange-Rot“ „glühenden Nierenfeuer“ einhergeht. Wenn es gelingt, dann fühlen wir uns aufgespannt, tonisiert, kompetent, gegründet und voller Vorfreude, wir wissen tief in uns und ohne jeden Zweifel: „Es wird gelingen!“. 

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Zusammenfassung: Haben wir das Urvertrauen des Säuglings, die Autonomie des Stehlings, die Initiative und Phantasie des Sprechlings erst erworben, so stehen wir bereits vor der nächsten Herausforderung: Als „Werkling“ lernen wir, was es bedeutet, Teil einer arbeitenden Gemeinschaft zu sein und ein Werk erfolgreich zu seiner Vollendung zu führen. Erikson spricht hier von „Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl“. Das Kind erlebt: „Ich bin, was ich lerne“. Werden wir in dieser Phase optimal gefördert, so wächst das Vertrauen in uns selbst und unsere Leistungsfähigkeit in gesunder Weise. Wir sind dann beharrlich und gleichen einer vollkommen entspannten – aber niemals schläfrigen – Katze, die „den Vogel bereits gefangen hat, bevor sie springt.“ Wir konnen dann ruhig warten bis die Zeit reif ist und im richtigen Moment Loslassen („Hara hachi buh“) statt durch das Festhalten an perfektionistischen Vorstellungen den optimalen Zeitpunkt zu verpassen.

 

VOLLTEXT UND ÜBUNGEN

 

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