„Ich bin der wahre Weinstock“ - Autonomie und Selbstbehauptung / Durchsetzungsfähigkeit

„Ich bin der wahre Weinstock“ - Autonomie und Selbstbehauptung / Durchsetzungsfähigkeit

2 – Das Wurzelkraftfeld:

Ich bin der wahre Weinstock“



Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater ist der Weingärtner“

(Johannes 15,1)



Erikson charakterisiert das Grundgefühl des Säuglings mit den Worten: „Ich bin, was man mir gibt“. Der Stehling“ dagegen empfindet: „Ich bin, was ich will“. – Bis zum vollständigen Erwerb der Propriozeption, d.h. der „Eigenwahrnehmung der Bewegung und Haltung unseres Körpers“ im Alter von zwei bis drei Jahren, haben wir kein festes Konzept von „Ich“.

In dieser Lebensphase sind wir ganz „Unternehmer“. Wir erforschen die Welt als „Wissenschaftler in Windeln“. – Wir bilden und verwerfen laufend Hypothesen über die Welt und folgen, wenn es gut geht, der Würde unseres Eigenwillens. Wir lernen, uns gegen die Schwerkraft aufzurichten. – Das bedeutet auch, dass wir im Schnitt 1180 mal hinfallen und wieder aufstehen: „Projekt 1180“. Wir lernen, dass wir autonom sind, uns aus eigener Kraft aufrichten und für uns selbst stehen können.

Genauso, wie wir damals gelernt haben, die Bewegungen unseres Körpers zu koordinieren, können wir heute lernen, die unbewussten Bewegungen und Verhaltungen unseres Leibes wahrzunehmen und selbst in die Führung zu bekommen, die „Propiozeption des Fühlens und Denkens“. Es ist erstaunlich, wie geschickt wir darin sind, immer wieder genau diejenigen Lebensumstände und seelischen Zustände herbeizuführen, die wir vermeiden wollen. Wenn wir in diesem Sinne meditieren lernen, endet dieses „Theater“, wir hören auf „uns selbst zu sabottieren.

So wie die Primitivgrube die Embryonalscheibe auf der Rückseite, aus welcher später das Nerven-Sinnes-System wird, in zwei Hälften teilt, so sind wir im Alltagsbewusstsein als Ego von der Welt getrennt. Als „Willenswesen“ dagegen sind wir immer bereits „Mitweltwesen“. Wir können uns gar nicht isoliert von der Welt betrachten. So wie wir über die Ernährung der Verdauungstrakt bildet sich auf der Vorderseite, dem späteren „Stoffwechsel-Gliedmassen-System“ der Embryonal-scheibe im ständgen Austausch mit der Welt sind, so sind wir als Handelnde immer schon eins mit dem Ganzen.

Es gibt nur ein „Universum“. Wenn es nur ein Universum gibt, dann kann es darin nichts Gesondertes, Abgespaltenes geben, sonst müsste es zumidest „Duoversum“ heißen. Dürfen wir das? Dürfen wir wollen, was wir wollen, einfach nur, weil wir es wollen, ohne weitere Begründung? Wir sind oft nicht gut darin geschult, den Willen wahrzunehmen. Schon als Kinder wurde vielen von uns der Wille gebrochen. Denken wir wieder an das Modell der zwei Schwellen. Zwei Formen der Pathologie sind möglich. Entweder waren wir von einer übermäßig ängstlichen Mutter behütet oder von den seelischen Zuständen unserer Eltern derart überfordert, dass wir gar nicht dazu kamen, unsere Autonomie zu erproben. 

Dann wären wir unter der Trainingsschwelle geblieben. Oder wir sind regelmäßig zu weit über das Ziel hinausgeschossen und haben möglicherweise sehr schlechte Erfahrungen mit dem Erforschen des Unbekannten gemacht. In beiden Fällen wären wir heute stark von Angst und möglicherweise auch von Scham geprägt sein. Die tiefe Angst vor unserer eigenen Kraft Angst sitzt leiblich oft im Psoas, der Muskel, welcher unsere Lendenwirbelsäule durch das Becken hindurch mit unseren Oberschenkeln verbindet. 

Wenn wir mit Wille in Kontakt kommen, dann denken wir an den Ausspruch Gabriels zu Maria: „Fürchte dich nicht“. Der Wille, um den es hier geht, ist nicht das alltägliche Vorstellen dessen, was ich denke, zu wollen. Der Wille, um den es hier geht, ist der Wille aus dem Vaterunser „Dein Wille geschehe“. Wenn wir diesem Willen folgen, dann werden wir – darauf können wir Gift nehmen – mitunter dafür gekreuzigt, wie Wilhelm Reich in „Der Christusmord“ darstellt. Wir werden sichtbar. 

Wir müssen aufstehen aus der „lauwarmen Badewanne“ der Konventionen, des politisch Korrekten, dessen, „wie man es eben macht“. Dabei werden wir fallen, wieder und wieder, wie ein Kind, das Laufen lernt. Wenn wir im Kontakt sind mit Wille, dann verlassen wir die Komfortzone unserer Bürgerlichkeit und stürzen uns immer aufs Neue mitten ins Risiko, mitten ins Leben. Dabei müssen wir nicht notgedrungen in einen Konflikt mit der Welt geraten. Wenn wir uns verletzlich machen – im Sinne des offenen Herzens – und volkommen machtlos ausdrücken, was wir wollen, dann können Wunder geschehen. Das Vorbild ist „Der Idiot“ (Destojevski).

Wir haben es höchstwahrscheinlich schon früh verlernt, unsere Würde zu achten. Immer wieder versuchen andere Menschen, uns zu nötigen. Die Übergriffe des Willens sind oft subtil. Sie reichen von unterschwelliger Werbung bis hin zum „gut gemeinten“ „Könntest du vielleicht...“. Wenn wir ängstlich sind, wenn uns das Urvertrauen fehlt, wenn uns die Fähigkeit, für uns selbst zu stehen, abgeht, dann ist die Wahrscheinlichkeit relativ groß, dass wir alle möglichen Willen ausagieren werden, nur nicht den eigenen.

Dann tun wir vielleicht, was unsere internalisierten Eltern in uns wollen, selbst wenn sie lange tot sind. Es ist ohne Probleme möglich, ein ganzes Leben lang gar nicht in Kontakt mit Wille zu sein und so fühlt es sich dann auch an. Wenn wir dagegen in unserer Kraft stehen, sind wir unerschütterlich und nicht leicht zu bewegen. Wir wissen dann, was wir wollen und wir richten unser Handeln danach aus, ohne faule Kompromisse. Wir setzen einen Schritt vor den Anderen und lassen uns vom sich entfaltenden Prozess des Lebens führen.

Wenn wir in unsicheren Verhältnissen aufgewachen sind, dann wissen wir oft nicht, wo unsere Grenzen liegen. Möglicherweise haben wir feine Antennen ausgebildet, mit denen wir spüren, was dran sein könnte, weil unsere Eltern uns heute wenig und morgen viel viel Spielraum zugestanden haben. In jedem Falle können wir unser Wurzelchakra heute nachreifen lassen, wenn wir uns erinnern an die kompromisslose Unnachbiebigkeit, mit welcher wir damals Laufen gelernt haben.

Es kann hilfreich sein, wenn wir es uns zur Richtlinie machen, jeden Tag nur genau so viel zu üben, wie wir auch unter den denkbar schlechtesten Bedingungen üben würden. Weniger ist manchmal mehr. Unser Wurzelchakra profitiert sehr davon, wenn wir so regelmäßig üben, wie wir uns jeden Abend die Zähne putzen. 

Urvertrauen und Autonomie sind die Voraussetzung für Initiative, Kreativität und das Spielen der Phantasie, welches biographisch als nächstes eintritt. Regelmäßiges Training ist die Basis von Überschusskraft. Und von unserer Überschusskraft hängt es ab, ob wir uns fühlen wie ein ängstlich eingerollter Wurm mit zusammengekniffenem Schwanz oder ob wir aufrecht und voller Kraft aufgespannt sind wie ein mächtiger Baum, energiegeladen und wachsam wie ein Vierbeiner, der freudig mit dem Schwanz wedelt.

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Zusammenfassung: Auf das Säuglingsalter folgt der beständige und eines Tages erfolgreiche Versuch, uns gegen die Schwerkraft aufzurichten. Wir beginnen zu Krabbeln, zu Stehen und schließlich zu Gehen. Wenn diese Trainings-Phase abgeschlossen ist haben wir die „Propiozeption des Unternehmens“ erworben: Wir können dann hüpfen und tanzen und wir können zu uns selbst „Ich“ sagen. Wir sind dann in der Lage, unseren Willen angstfrei zu erproben. Erikson spricht hier von dem Konflikt „Autonomie vs. Scham“. Das Kind empfindet sich selbst als: „Ich bin, was ich will!“ – Wenn diese Zeit optimal verlaufen ist, dann haben wir ein gesundes Vertrauen in unsere Tatkraft und wir trauen uns, die Grenzen der uns bekannten Welt durch unser stetiges Forschen und Entdecken zu erweitern. Wir haben unseren Leib in Besitz genommen und wir haben einen lebendigen Zugang zu unserem spontanen und ursprünglichen Willen. Auch dieses Kraftfeld vulkansicher Energie können wir durch Benutzung nachreifen lassen. Dann Tun und Lassen wir, was wir wollen, nicht weil wir Sollen oder Müssen, sondern, weil wir es wollen, ohne „Grund“.

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