3 – Das Kehlkraftfeld: „Ich bin die Tür“
„Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden“
(Johannes 10,9)
Als Säuglinge haben wir uns – wie aus einer kosmischen Heimat herabsteigend – in unserem Körper beheimatet. Dabei haben wir gelernt, dass wir „uns verlassen“ können. Wir wissen, dass wir getragen, in einen liebevollen Kontext eingebettet sind und dass wir bekommen werden, was wir wesentlich für unsere Entwicklung brauchen. Darauf hin haben wir Laufen gelernt. Wir haben uns gegen die Schwerkraft aufgerichtet. Dabei sind wir viele male auf die Nase gefallen und wieder aufgestanden. Wir haben unseren autonomen Eigenwillen geübt.
Waren wir als Säugling noch mehr oder weniger „kosmisch“ , so sind wir nun relativ „irdisch“ geworden, insofern, dass wir uns – im stetigen Austausch und mit ständiger Bestätigung durch unsere Umgebung – ein provisorisch Selbstkonstrukt „zusammengebastelt“ haben. Wir erleben uns selbst nun als ein abgesondertes Wesen und nennen uns selbst „Ich“, was wir davor noch nicht konnten.
Im nun folgenden Schritt, dem Kindergartenalter, öffnet sich unsere Welt in die „Horizontale“ des sozialen Miteinanders mit anderen Altersgenossen – Nachdem wir sowohl die „Propriozeption des Nehmens“ als auch die Propriozeption des „Unternehmens“ ausgebildet haben, beginnen wir nun, mit anderen Kindern zu spielen.
Waren wir vorher noch vollkommen „Out of Space“ oder mit der Koordination unsere Gliedmaßen beschäftigt, so bilden wir nun eine erste, noch relativ plastische Identität aus. Wir entdecken, dass es noch andere Menschen gibt als die Mutter. Im Spiel beginnen wir, in die verscheidenste Rollen zu schlüpfen. Bevor wir „Ich“ sagen konnten, spielten wir mit etwas. Nun spielen wir „etwas“.
Wir erproben nun die herrliche Fähigkeit, uns ganz und gar zu verwandeln: Wenn wir ein Seeräuber sind, dann sind wir der Seeräuber. Wir können von einer Wirklichkeit in die andere „springen“ wie durch eine „Tür, durch die wir hinein – und, nicht zu vergessen! – auch wieder hinaus gehen können“.
In diesem Alter beginnen wir außerdem, ein deklaratives Gedächtnis zu entwickeln. Viele Eltern freuen sich darüber, dass ihr Kind endlich „Ich“ sagen kann. Man könnte genauso gut wehmütig den Kopf schütteln, denn „die Krankheit hat begonnen“. – Die Fähigkeit, „Ich“ zu sagen und dieses Konstrukt, dieses Spiegelbild zunehmend mit der Präsenz des Ich, des „Ich-Als-Gegenwart“, als „reines Bemerken“ zu verwechseln, bringt es mit sich, dass wir nun in der Lage sind, nicht nur „in der Lüge (des Getrenntseins) zu leben“ – Luzifer, der „Ich-Bringer“ – sondern auch selbst lügen zu können, was einem „kosmischen Betriebsunfall“ durchaus nahe kommt.
Wir werden dazu fähig, Geheimnisse zu bewahren und vor anderen zu verbergen. Wir nehmen uns selbst zunehmend wichtig und wir bekommen Freude am Zerstören. Wir kommen nun auch dazu, die Grundlage unseres „ethische eigenständigen Gewissens“ auszubilden. Erikson spricht von dem Spannungsfeld „Initiative vs. Schuldgefühl“. – Wir sind voller Tatendrang und Initiative, wechseln von einem hoch emotionalen Zustand in den nächsten und sprühen vor Lebenskraft und Energie.
Die Voraussetzung für das Gelingen an dieser Stelle ist, dass wir der Welt und uns selbst vertrauen. Nicht umsonst ruft Sebastian in der „Unendlichen Geschichte“ seinem „Anderen Selbst“ Atréju beim Durchschreiten des „Südlichen Orakels“ aus voller Kehle zu: „Hab Selbstvertrauen!“. – Wir müssen mutig genug sein, aufzustehen und sichtbar zu werden, sonst „spielen wir nicht die Phantasie“ sondern wir spielen nur „in der Phantasie“ oder aber, das andere Extrem, wir spielen „Spielchen“, d.h. wir spielen nicht wirklich, lau, halbherzig, ohne wirkliches „Skin in the game“.
Wenn wir erst ein mal erwachsen geworden sind und unsere Identität sich gefestigt hat, vermissen wir oft die Energie und Spontanität aus jener Zeit. Das muss nicht sein. Niemand zwingt uns dazu, der zu bleiben, der wir geworden sind. Genauso, wie der Sprechling für den Zeitraum des Spiels ganz und gar „Detektiv“, „Fußballstar“ oder „Superheld“ sein kann, so können auch wir zeitweise in ein „anderes Ich“ springen.
Im Wahn des „Eigendünkels“ halten wir den, der wir geworden sind, für den einzig Möglichen, der wir sein könnten. – Sind wir ein mal vollkommen ehrlich zu uns selbst, dann können wir 99,9% Prozent unseres „Ich“ auf unsere Gene und unsere Umgebung zurückführen. Dabei enthält „Das menschliche Selbst“ millionenfach mehr
Möglichkeiten als die einigen wenigen, die mit unserer Umwelt zufälligerweise in Resonanz gekommen sind. Als „lallende“ (griechisch: paralalein) also „pfingstlich sprechende“ Kinder bilden wir alle Phoneme aller Sprachen. –
Schon nach kurzer Zeit behalten wir nur noch diejenigen bei, welche in unserer Umgebung eine „emotionale Welle“ erzeugen, wie „Baba“ oder „Mama“. Die meisten anderen der vielen möglichen „Knack- Schnalz, Zisch- und Grunzlaute“ (Förster), welche die typisch menschliche Sprache ausmachen, gehen aufgrund mangelnder Resonanz mit der Umgebung verloren. – Wie schade wäre es doch, das Endprodukt dieser orchestrierten „Quanten-Reduktion“ (Penrose/ Hameroff) von Möglichkeiten für uns Selbst zu halten!
Rudolf Steiner meinte allen ernstes ein mal, dass die heutigen Sprachwerkzeuge in ferner Zukunft die Genitalien als Organe der Fortpflanzung ablösen würden. – Was könnte damit gemeint sein? – In der klassischen Psychoanalyse ist in diesem Alter die Rede vom „Ödypuskomplex“. Im Vorschulalter beginnen wir anfänglich damit, uns unserer Geschlechtlichkeit bewusst zu werden. Vielleicht reden wir in dieser Phase davon, das gegengeschlechtliche Elternteil heiraten zu wollen.
In der anschließend beschriebenen Übung „Avatar“ ist es oft ein gegengeschlechtlicher Mensch, an den wir uns erinnern, aber nicht notwendigerweise. – Jeder Mensch ist eine ganz spezifische, individuelle Mischung aus männlichen und weiblichen Anteilen, die weit differenzierter zu fassen ist, als das rein biologische Männlich- oder Weiblichsein.
Wenn unser „Kehlkraftfeld“ geöffnet ist, dann verwirklichen wir die Fähigkeit zu ethischer Phantasie und Intuition. Wir können uns dann immer wieder neu erfinden statt in den festgefahrenen Pfaden unserer Biologie das Alte viral zu replizieren, wie die heute so populär gewordenen, „Zombies“.
Als naive Alltagsmenschen nehmen wir an, wir könnten tun, was wir wollen. Dass diese Art der vermeintlichen Willensfreiheit oder „Wahlfreiheit“ reine Illusion ist wurde zwar bereits von Steiner in seiner „Philosophie der Freiheit“ (1894) ausführlich dargestellt, letzlich bewiesen wurde es jedoch erst in den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts durch die Experimente von Benjamin Libet. Libet konnte zeigen, dass jeder Handlung, die wir ausführen, ein „neuronales Bereitstellungpotenzial“ vorausgeht.
Rückwirkend reden wir uns dann ein, wir hätten aus „freiem Entschluss“ gehandelt. Unser „Ich“ agiert dann wie eine Art „Regierungssprecher“, der die vollkommen unbewusst in uns zu Stande gekommenen Handlungen vor sich selbst und vor anderen rechtfertigt. Glücklicherweise wurden die Experimente von Libet später noch ein mal wiederholt.
Dabei wurde entdeckt, dass es außerdem noch eine kurze Lücke (eine Siebtel- bis Fünftel-Sekunde) gibt, bevor wir eine Handlung oder einen Sprechimpuls in die Tat umsetzen. – Wenn wir schon nicht diejenigen sind, die die unbewusst entstehenden Handlungen in Gang bringen, so können wir diese doch immerhin bremsen oder hemmen. Eine besondere Bedeutung scheint unser Kehlkraftfeld also als ein „Organ der Hemmung“ – auch rein physiologisch, als Hemmung oder Modulation des Atemstroms hin zur Sprache – zu besitzen.
Wir verinnerlichen das Bild von Michael, der oft mit Schwert und Waage dargestellt wird: Wägend, was heraus darf und was nicht und abschneidend – Steiner spricht an dieser Stelle von der „tötenden Funktion des Ich“ dessen, was wir nicht als mit den Kriterien unseres Gewissens im Einklang empfinden. – Im Bild der Zauberflöte: „Tamino schweigt“.
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Zusammenfassung: Die Phase des Sprechlings: Wir lernen, mit anderen Menschen zu kommunizieren und spielen – inspiriert von unserer Phantasie – unterschiedliche Rollen. Wir sind nun in der Lage, etwas vor Anderen zu verbergen. Wir erwerben die Anlage unseres potenziell ethisch eigenständigen Gewissens. Erikson spricht hier von „Initiative vs. Schuldgefühl“. Wenn diese Lebensphase erfolgreich bewältigt wird, sind wir später in der Lage, uns selbst immer wieder neu zu erfinden. Wir können unser Dasein dann als eine Erzählung, als einen Heldenmythos begreifen, dessen Hauptdarsteller und Autor wir selbst sind: „Ich bin, was ich mir vorstellen kann, zu sein“.